In den Siebzigerjahren gab es eine ganze Reihe von Aspiranten auf die Karl-Kraus-Nachfolge, die an offenem Epigonentum nichts Peinliches fanden, im Gegenteil, sich darin zur höheren Ehre des Meisters übertrafen. Uwe Nettelbeck ging soweit, seine Zeitschrift „Die Republik“ auch in Typografie und Satz wie „Die Fackel“ zu gestalten.
Heute gelesen, überzeugt gleich die erste Geschichte des ersten Bandes, „Ein Sängerkrieg“, durch ihre ungebrochene Aktualität. Es geht um den deutschen Beitrag beim European Song Contest im Jahr 1976 im Spiegel der nationalen Presse. Alle großen Fragen, welche die deutsche Teilnahme alljährlich begleiten, wurden schon damals dringend gestellt. Warum gewinnen wir nie? Warum hassen uns alle? Ist es immer noch wegen dem Krieg? Oder einfach, weil wir Deutsche sind? Und auch die Lösungsansätze sind noch immer die gleichen: Endlich mal das Volk über die Teilnahme bestimmen lassen. Besser auf Englisch singen. Vielleicht einfach erst gar keine Deutschen hinschicken, sondern eventuell importierte englische Muttersprachler. Nach etlichen Volten und Wendungen, die Nettelbeck liebevoll aus Meldungen von „Hör zu“ über „Bild und Funk“ bis hin zum „Trierischen Volksfreund“ arrangiert hat, schickte Deutschland den britischen Musiker Les Humphries mit seinem Titel „Sing Sang Song“ ins Rennen.
Meine moderne Tante, die weiße Schlaghosen und einen Schlapphut trug, hatte die Single zuhause, und ich studierte die auf dem Cover abgebildeten „Les Humphries Singers“ eingehend, während „Sing Sang Song“ wieder und wieder lief. Aus allen Erdteilen, so schien es mir, hatten sich junge Männer und Frauen zusammengefunden, durch Mode und Modernität vereint, und so, dachte auch ich, könnte sie aussehen, eine bessere Welt.
Die Welt selbst dachte das nicht. „Sing Sang Song“ landete auf dem viertletzten Platz. Und wieder wurden die Fragen gestellt, die uns noch heute dringend beschäftigen: Warum gewinnen wir nie? Warum hassen uns alle? Usw.