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Im Meer der Gelassenheit

Getriebe

4. Februar 2024

In den Siebzigerjahren gab es eine ganze Reihe von Aspiranten auf die Karl-Kraus-Nachfolge, die an offenem Epigonentum nichts Peinliches fanden, im Gegenteil, sich darin zur höheren Ehre des Meisters übertrafen. Uwe Nettelbeck ging soweit, seine Zeitschrift „Die Republik“ auch in Typografie und Satz wie „Die Fackel“ zu gestalten.

Heute gelesen, überzeugt gleich die erste Geschichte des ersten Bandes, „Ein Sängerkrieg“, durch ihre ungebrochene Aktualität. Es geht um den deutschen Beitrag beim European Song Contest im Jahr 1976 im Spiegel der nationalen Presse. Alle großen Fragen, welche die deutsche Teilnahme alljährlich begleiten, wurden schon damals dringend gestellt. Warum gewinnen wir nie? Warum hassen uns alle? Ist es immer noch wegen dem Krieg? Oder einfach, weil wir Deutsche sind? Und auch die Lösungsansätze sind noch immer die gleichen: Endlich mal das Volk über die Teilnahme bestimmen lassen. Besser auf Englisch singen. Vielleicht einfach erst gar keine Deutschen hinschicken, sondern eventuell importierte englische Muttersprachler. Nach etlichen Volten und Wendungen, die Nettelbeck liebevoll aus Meldungen von „Hör zu“ über „Bild und Funk“ bis hin zum „Trierischen Volksfreund“ arrangiert hat, schickte Deutschland den britischen Musiker Les Humphries mit seinem Titel „Sing Sang Song“ ins Rennen.

Meine moderne Tante, die weiße Schlaghosen und einen Schlapphut trug, hatte die Single zuhause, und ich studierte die auf dem Cover abgebildeten „Les Humphries Singers“ eingehend, während „Sing Sang Song“ wieder und wieder lief. Aus allen Erdteilen, so schien es mir, hatten sich junge Männer und Frauen zusammengefunden, durch Mode und Modernität vereint, und so, dachte auch ich, könnte sie aussehen, eine bessere Welt.

Die Welt selbst dachte das nicht. „Sing Sang Song“ landete auf dem viertletzten Platz. Und wieder wurden die Fragen gestellt, die uns noch heute dringend beschäftigen: Warum gewinnen wir nie? Warum hassen uns alle? Usw.

Ein Zusammenhang

15. Januar 2024

Der Zusammenhang von Weltuntergang und Utopie ist der um seinen metaphysischen Gehalt gebrachte Zusammenhang von Jüngstem Tag und Paradies. Die Anhänger der abrahamitischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, glauben auf ihre Weise an diesen Zusammenhang. In den säkularisierten Gesellschaften des Westens folgen zwar immer weniger diesen Religionen. Umso bemerkenswerter ist es aber, dass anscheinend das Abstraktum ihrer Bedingtheit, also der konditionalen Verknüpfung von Weltuntergang und Erlösung, auch in postreligiösen Weltbildern erhalten blieb. Die Vorstellung, das irdische Handeln der Menschen führe zwangsläufig ihr Ende herbei, gilt als so gewiss, dass schon ketzerisch erscheint, wer sie als Vorstellung bezeichnet. Die Funktion des Glaubens ersetzt das Vertrauen auf menschliches Wissen, das, erstaunlich genug, den gleichen Ausweg in Aussicht stellt, wie zuvor die Religionen, nämlich jenen der Erlösung durch Umkehr. An die Stelle des himmlischen Paradieses ist eine Idee von Frieden und Gerechtigkeit auf Erden getreten, die so vage und unbestimmt wie nur irgend möglich bleiben muss, um im buchstäblichen Sinne glaubwürdig zu sein. Diese Parallelität ist gut belegbar, sie wurde schon oft bemerkt und auch ausführlich beschrieben. Es wäre allerdings ein Fehlschluss, mit ihr lasse sich die Falschheit oder Richtigkeit des eingangs erwähnten Zusammenhangs von Weltuntergang und Paradies begründen. Aber es ist verblüffend, dass er offenbar für glaubwürdiger gehalten wird, als die Lehren, denen er entstammt.

Outbreak

15. Januar 2024

Der emblematische Moment jedes Zombiefilms ist der, in dem die Protagonisten begreifen: der Jüngste Tag ist angebrochen. Je alltäglicher die Szenerie, in der sie diese Erkenntnis trifft, desto effektvoller. Du stehst in der Küche und bereitest das Essen zu. Es ist ein friedlicher Sommersonntagvormittag. Durchs Fenster siehst du die Nachbarin an deine Gartentür kommen. Sie stößt sie etwas nachlässig auf, ihr Gang ist ein bisschen schwankend. Du lächelst, weil du weißt, sie hatte Gäste zum Frühstück, vielleicht hat es Champagner gegeben. Du rufst den Namen deines Mannes und bittest ihn, an die Tür zu gehen, um sie zu empfangen. Du selbst kannst gerade nicht, weil du mit einem scharfen Messer Gemüse schneidest. Du rufst noch: „Vielleicht braucht sie etwas.“ Dann siehst du, immer noch durchs Küchenfenster, während sie näherkommt, dass etwas mit ihr nicht zu stimmen scheint. Im nächsten Moment hat sie deinen Mann erreicht, und im übernächsten ihre Zähne in seinen Hals geschlagen. Deine Hand umkrallt das Messer. Was jetzt?

Kunst und Utopie (1)

15. Januar 2024

Beim Lesen im Vorwort der deutschen Ausgabe zu Mark Fishers k-punk erinnerte ich mich daran, wie stark die Lektüre von Sounds und später Spex Ende der 70er-Jahre meine Vorstellung davon prägte, wofür Kultur gut sein könnte. Das Wort „Kultur“ ist an dieser Stelle nichts weiter als ein Platzhalter für Werke, die in irgendeiner Weise als künstlerisch oder künstlerisch gemeint konnotiert werden. Ich verwende absichtlich nicht einen Ausdruck wie „meinen Kulturbegriff prägte“, weil das so klingt, als würde man sich irgendwann im Leben für einen Kulturbegriff entscheiden, so wie man sich vielleicht für einen bestimmten Stil in der Kleidung oder bei seiner Wohnungseinrichtung entscheidet. Ich begegnete Texten, in denen Dinge verhandelt wurden, die mich unmittelbar betrafen. In ihren besten Momenten waren Sounds und Spex in ihren Urteilen respektlos, anmaßend, totalitär, unsachlich, wegweisend. Charmant war das nur, weil sie machtlos waren. Zumindest im naheliegenden Sinn. Sie hatten kein Geld, keine Industrie im Rücken. Aber sie hatten Geschmack. Einen neuen, interessanten Geschmack, und sie kannten als erste die neuen Bands, die Woche für Woche neue Musik veröffentlichten. Doch ging es bei diesen Lektüren nicht um Vorlieben. Es ging um die Idee, Pop-Musik, bildende Kunst, erst danach Literatur, auf etwas andere Weise auch Film, könnten etwas anderes sein als leicht konsumierbare Produkte der Unterhaltungsindustrie, die ihren Zweck erfüllen, sobald sie der Kundschaft ein wenig das Gemüt erleichtern. Sie könnten vielmehr Mittel sein, eine Differenz zu formulieren, vielleicht sogar zu schaffen, die einen, egal ob als Künstler oder als Rezipient, etwas anderes sein lässt, als ein Rädchen im Getriebe.

Night of the Living Dead

7. Januar 2024

Von der Möglichkeit eines Weltuntergangs habe ich zum ersten Mal im Religionsunterricht in der Grundschule erfahren. Der Pfarrer mit dem Glasauge sprach davon. Er gab uns eine sehr plastische Vorstellung von der Wiederauferstehung der Toten und vom Jüngsten Gericht. Die Toten verlassen ihre Gräber und versammeln sich vor Gott, um sein Urteil zu erfahren. Ich vermute, meine Faszination für Zombiefilme geht auf diesen Ursprung zurück. Mit der Nachricht, dass wir alle dem Untergang geweiht waren, wurden wir in die Kleine Pause entlassen.

Das Auge der Dreifaltigkeit

6. Januar 2024

Meine Kindheit als Bildungseinrichtung betrachtet, war von modellhafter Ordnung. Das Haus, in dem wir wohnten, stand der Kirche gegenüber. Die Straße dazwischen war die Schulstraße, sie reichte, höchst sinnhaft, vom Schulgebäude bis zum Friedhof. Mein täglicher Schulweg betrug etwa dreihundert Meter, von der Kirche zur Schule und wieder zurück. Die Kirche war mir nicht nur räumlich näher. Die Aufgaben in der Schule waren darauf angelegt, gelöst zu werden. Die Rätsel der Kirche waren unergründlich. Ganz wie das Glasauge des Pfarrers. Während mich sein intaktes Auge streng fixierte, blickte das andere scheinbar gedankenverloren in eine unbestimmte Ferne. Darin ähnlich dem Auge der Dreifaltigkeit über dem Taufbecken. Ein stärkerer Beweis, dass der Pfarrer der Stellvertreter Gottes auf Erden war, war kaum denkbar und auch nicht nötig. Sein Reich war gekommen, sein Wille geschah. Auch für mich gab es einen Platz in der göttlichen Ordnung, als Ministrant. Es galten folgende Tarife: Einfache Gottesdienste eine Mark, Beerdigungen zwei Mark, Hochzeiten fünf Mark. Auf der linken Seite des Hauptschiffs über dem Kreuzweg befand sich meine liebste Heiligenfigur. In glänzender Rüstung besiegte der Heilige Georg den Drachen. Genauer, er hatte ihn schon besiegt. Im Triumph auf dem getöteten Untier stehend, reckte er Schild und Schwert in die Höhe. Ich war mit der Auswahl meines Vornamens zufrieden. Ich empfing die Heilige Kommunion und später den Wangenstreich des Kardinals zur Firmung. So hätte es weitergehen können, doch es gab im Dorf keine weiterführende Schule. Nur die Schulstraße führte weiter. Hinter dem Friedhof wechselte sie den Namen und brachte mich zum Bahnhof. Nach dem Wechsel aufs Gymnasium fuhr ich täglich von dort in die Stadt. Es geschah, wovor der Pfarrer uns alle gewarnt hatte. Ich kostete vom süßen Gift des Zweifels, entdeckte das unsichere Glück der Freiheit.